Montag, 25. Mai 2009

Fünf Zucker - fünf Milch

Mit der Bahn kommt man rum, zum Beispiel einmal quer durch die Republik: IC Köln-Leipzig, Montag 11:49. Dabei trifft man gelegentlich auch die Reichen und Schönen dieses Landes, da sie von Verspätungen und verpassten Anschlüssen ebenso wenig verschont werden, wie alle anderen: die große Gleichmacherin Bahn.

Auf halber Strecke zwischen Köln und Leipzig, in Hannover, füllt sich der Zug schlagartig. Ich sitze mit einer anderen weiblichen Schönheit an einem Vierertisch, gegenüber versetzt, um der Beinfreiheit Willen. Ein hagerer Herr nähert sich, mit Mühe einen abgewetzten Alukoffer schleppend, sieht auf meine Handtasche, die neben mir den Sitz belegt und fragt eher rhetorisch: „Hier ist doch noch frei?!“ Ich blicke wortlos auf, räume den Sitz leer und will mich gerade wieder dem Eckstein widmen, da sehe ich eine Frau im Stechschritt hinter dem Typen herkommen. Entrüstet zischt sie ihn an, dass er das nächste Mal gefälligst vorsichtig mit seinem Koffer sein solle und mehr aufpassen und Rücksicht nehmen. Er schenkt ihr keinerlei Beachtung und hievt genervt sein verbeultes Gepäckstück auf die Ablage, wo es bei jeder Be- und Entschleunigung des Zuges zwischen zwei Trennwänden pendelt. Die Dame wirkt irritiert, hilflos, geht an ihren Platz zurück. Ist er ihr etwa über den Fuß gefahren? Ich habe nichts gesehen, aber meine geschlechtersolidarische Neigung lässt mich den Kerl sofort als arrogantes Arschloch einstufen. Er hat sich nicht wofür auch immer entschuldigt und auch nicht nachgefragt, was denn passiert sei. Das ist für mich ein schweigendes Eingeständnis.

Kaum fünf Sekunden sitzend, den Laptop aufgeklappt, fragt er mich, was ich dächte, wie lange ich die Steckdose noch benutzen wollte. „Es sind zwei.“, antworte ich. Nun, das war zwar keine Antwort auf seine Frage, aber was wollte ich ihm damit sagen? Etwa, dass wir uns gar nicht um eine Steckdose streiten müssen? Langsam dämmert ihm, was ich meine. Beobachtungsgabe scheint nicht zu seinen Stärken zu gehören.

Der rollende Krämerladen der Bahn nähert sich leise von hinten: Mister Ignorant bestellt Kaffee und quetscht den Pappbecher zwischen unsere beiden Notebooks, wo er bereits sein Mousepad deplatziert hat – ein Buch von Richard David Precht über „Lenin“, der „nur bis Lüdenscheid“ kam. Ich denke, im Zug wäre mir eine Maus, noch dazu mit Pad viel zu umständlich und Platz raubend, noch dazu ein dickes Buch. Eventuell ist ja sein Touchpad defekt, überlege ich entschuldigend. Nun, ein Kaffee kommt selten allein. Mein Nachbar gewinnt die Eigenschaft „exzentrisch“ hinzu. Der Grund sind exakt fünf aufgerissene Milchbecher, die er wie eine Balustrade vor sein Notebook gruppiert, sowie exakt fünf Tütchen Auszugszucker. Alle zehn Behälter werden in den Kaffeebecher geleert.

Das Handy klingelt. Sein Akku macht gleich die Mücke. Leute wie er haben normalerweise Blackberries und jammern nicht über Akklaufzeiten. Er redet von Lesungen und Illner und dass er auf dem Weg „in den Osten“ sei. Das lässt mich aufhorchen. Er lobt Fotostrecken, in denen er eine Erde, nein, eine Handvoll Erde in der Hand habe. Er bedankt sich für eine gelungene Produktion und warnt vor der Veröffentlichung unvorteilhafter Bilder. Eigen-PR scheint er zu beherrschen, wo es ihm berechenbar nützt. Höflich zu Lieschen Müller kann er nicht sein.

Langsam dämmert mir auch, woher ich dieses Gesicht kenne: Ich habe ihn bei Beckmann im Fernsehen gesehen. Die Realität ist enttäuschend. Er entbehrt hier im Unterschichtabteil jeder eloquenten Demut. Vielleicht wirkt die Umgebung auf ihn, wie Blattwerk auf ein Chamäleon. Vielleicht hat er die Anpassung längst perfektioniert. Später am Abend lese ich über sein nächstes Buchprojekt und bin ab da überzeugt, dass ich Zeugin einer Feldstudie im Selbstversuch wurde: „Die meisten Menschen wollen gut sein, sind es aber nicht. Wie kommt das eigentlich?“

Die Buchbranche scheint ihn momentan von Hotelzimmer zu Hotelzimmer zu hetzen. Die Pseudo-Intellektuellen haben schließlich seinen Marktwert entdeckt, ein Philosoph, der dem Volk aufs Maul schaut und auf die Finger. Ich schaue wiederum ihm auf die Finger und entdecke: Sein rechter Zeigefinger bewältigt die komplette Texteingabe. Der linke Zeigefinger wird lediglich zur Betätigung der Shift-Taste gebraucht. Wie kann man Bücher mit anderthalb Fingern schreiben? Meine ganze Bewunderung gilt dieser Technik. Meine ganze Bewunderung gilt am Ende deshalb Richard David Precht, dem ich kurz vor Ankunft seine halbvolle Apfelschorle klaue, nur um seine DNA in meiner Handtasche mit nach Hause nehmen zu können. Naja, eigentlich nur, damit ich darüber dann auch bloggen kann. Eine weitere Inszenierung in diesem Theater.

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