Donnerstag, 18. Februar 2010

The Karma-Dilemma

Vierzehn ganze Tage habe ich mich hinter Daunen und Kissen verbarrikadiert mit Chips und Cola, Schokolade und Rotwein, Bratkartoffeln und Käse, Eiern und Schinken, schlechten Serien und noch schlechteren Filmen. Bestimmt zwei Kilo schwerer aber kein bisschen unglücklich, Hirn entleert, Rücken entspannt. Meine Güte geht’s mir gut! Ach du Sch…, sind meine Haare lang geworden! Ich muss zum Friseur.
Seit
Jahren stecke ich in dem moralischen Zwiespalt, den Billiglohnsektor nicht protegieren zu wollen, weil ich eigentlich dagegen bin, dass jemand von unter 5 Euro Stundenlohn leben muss. Andererseits habe ich im karitativen Ehrenamt viele Jahre nur von Händedrucken und Blumensträußen gelebt und nie beschlich mich das Gefühl, meine Vorgesetzten seien in irgendeiner Form unglücklich darüber. Ich wähle den Mittelweg: "Waschen, Schneiden, Selberföhnen" gibt es bei Caroline für 20 Euro, das ist ebenso unangemessen wie erschwinglich. Zumindest den Zehn-Euro-Friseur boykottiere ich und fühle mich gut dabei. Als die wortkarge Dame mit dem Schneiden fertig ist, beginnt sie zu föhnen. ("Halt! Das ist doch mein Job!" denke ich.) Sie nimmt sich beinahe mehr Zeit fürs Föhnen als für das Schneiden und ich fürchte, dass sie im Minutentakt abrechnen wird. Ich müsste dann mit einer 40-Euro-Rechnung leben. Ich wage es nicht, ihr das Gerät aus der Hand zu reißen. Ich möchte nicht knausrig wirken und es auch nicht sein. Es werden dann schließlich 30 Euro, Caroline ist glücklich. Ich muss also meine Brauen und Barthaare selbst zupfen, Natalie will dafür nämlich immer nen Zehner…
Jetzt, wo ich die Haare schön habe, geht es zum Body Shop. Dort lerne ich, was ein "Body Mist" ist, entscheide mich für die Version "Sparkling Apple" und lasse mir außerdem einen "Curl Boost" aus Baumwollsamen für meine neuen Haare andre
hen. Weil mir bei einer Rechnung von 16 Euro noch 4 Euro für einen Treuestempel fehlen, widme ich den Fehlbetrag kurzerhand der Spendenaktion "Stoppt Sex-Handel mit Kindern und Jugendlichen". Die Verkäuferin ist überaus erfreut. Schließlich ahnt sie nicht, dass ich viele Jahre mal den Zehnten gegeben habe. Ich bin also einiges gewohnt und komme mir mit meiner mickrigen 4-Euro-Spende geizig vor. Zu allem Überfluss bekomme dafür nicht nur diesen blöden Stempel. Sie strahlt, kramt in ihrem Schränkchen und teilt mir mit, dass ich, "weil die Spende so hoch war", eine weitere Creme und ein limitiertes Postkarten-Set erhalte. Außerdem könne ich mir aussuchen, von welchem Artikel im Laden sie mir eine Probe abfüllen soll. Ich wähle "süße Zitrone" und bin irritiert. (Als Teenager habe ich mal 50 DM an ein Missionswerk nach Sibirien gespendet, woraufhin ich ca. zehn Jahre lang handgeschriebene Papierbriefe direkt aus Sibirien bekam.) Im Body Shop befällt mich ein ähnliches Gefühl. Was kommt denn da noch bei den Kindern an?Dritte Station Bagel Brothers. Ich nehme ein halbes Dutzend Bagels und 100g Frischkäse. In Gedanken versunken das Rabattverhältnis zwischen einem Dutzend und einem halben Dutzend sowie einzelnen Bagels ausrechnend, zahle ich und verlasse den Laden. Der Betrag klingt mir noch im Ohr und ich stelle fest: Ich habe nur die Bagels bezahlt, den Frischkäse gab es gratis. Lauf ich jetzt zurück? 1.60 nachzahlen? Nee, 3,25 Euro ist ja eigentlich teuer genug für ein paar Brötchen, die nichtmal BIO sind.
Lieber noch schnell zu Netto in den Strohsack und den Einkauf vervollständigen. Ich habe jedoch aus der Frischkäsegeschichte gelernt und bin aufmerksam. Die Kassiererin ist ob der langen Schlange nervös und entsprechend langsam und unkonzentriert. Sie gibt mir 20 Cent zu viel Rückgeld. (Um mir eine Reise zu einer amerikanischen Pfingstgemeinde zu finanzieren, die gerade eine Erweckung erlebte, hab ich im zarten Alter von 16 mal drei Monate bei Kaufland kassiert. Ich weiß also genau, wie man sich fühlt, wenn die Kunden unruhig werden und die Augen verdrehen. Nichts ist schlimmer, als wenn nach Feierabend die blöde Kasse nicht stimmt.) Ich gebe ihr also das Geldstück zurück und ernte einen ähnlich entrückten Blick von dem Mädchen, wie von der Body-Shop-Verkäuferin angesichts meiner Anti-Sex-Spende.

Ich habe eine Friseuse in meditativer Geschwindkeit föhnen lassen, für den Versuch, Kinder vor Sex zu schützen, Geschenke abgesahnt und mir zwar 100g Käse, nicht aber 20 Cent schenken lassen. Unterm Strich bin ich ratlos, wie sich die Karmapolizei zu meinem Verhalten positioniert.

Keine Kommentare: